Kubanischer Internationalismus

Als wir am 11. September von der Baustelle Los Naranjos zur Mittagspause ins Campamento zurückkehrten, erfuhren wir über den Lagerlautsprecher von dem faschistischen Militärputsch in Chile. Von diesem Zeitpunkt an - die Nachrichten waren noch unvollständig und teilweise auch widersprüchlich – bis zu unserer Abreise am 1. Oktober standen unser Informationsbedürfnis, die Diskussionen, die wir führten, und die Veranstaltungen, die wir besuchten, überwiegend im Zeichen der chilenischen Entwicklung. Wir versuchten nicht nur in Erfahrung zu bringen, ob und in welchem Umfang sich der Widerstand gegen die Junta organisierte, und wir beschränkten uns auch nicht darauf, die ökonomischen, sozialen und politischen Hintergründe des Putsches zu erörtern, sondern wir wollten vor allen Dingen auch wissen, wie die kubanische Regierung, die Kommunistische Partei, die Massenorganisationen und die Bevölkerung die Lage und die künftige Entwicklung Chiles einschätzten. Diese Intention war umso verständlicher, als die Prinzipien des kubanischen Internationalismus während dieser Tage ganz konkret auf die Probe gestellt wurden.

Daß man in Kuba so intensiv wie in kaum einem anderen Land der Welt die chilenischen Ereignisse verfolgte und am Schicksal der chilenischen Sozialisten und Kommunisten Anteil nahm, kam zunächst in einer umfassenden und genauen Berichterstattung zum Ausdruck. Die Zeitung GRANMA widmete den Vorgängen in Chile täglich mehrere Seiten, sie zitierte spaltenweise internationale Pressestimmen zum Sturz der Volksfrontregierung, und sie berichtete ausführlich über die Demonstrationen, die sich in allen Teile der Welt gegen das faschistische Militärregime richteten. Die JUVENTUD REBELDE und die Wochenzeitschrift BOHEMIA ergänzten die Presseinformationen. Die Nachrichten des kubanischen Rundfunks, die wir über die Lautsprecher des Campamentos auch englisch oder französisch hören konnten, rundeten das Bild ab. Hinzu kam, daß wir am Abend des 15. September Gelegenheit hatten, von einigen Mitarbeitern der Nachrichtenagentur PRENSA LATINA, die in Santiago de Chile akkreditiert gewesen waren und die das Land zwei Tage nach dem Putsch hatten verlassen müssen, einen ersten authentischen Bericht zu hören. Nachdem wir uns wenige Stunden zuvor in die am Fuße des Denkmals José Martí an der Plaza de la Revolución in La Habana ausgelegten Kondolenzbücher zum Tode Salvador Allendes eingetragen hatten, erfuhren wir an diesem Abend viele Einzelheiten des Putschverlaufs. Darüberhinaus enthielt der Bericht der Korrespondenten – ebenso wie die Reden, die wir später hörten - eine detaillierte und aufschlußreiche Analyse der politischen und ökonomischen Entwicklung, die mit der Machtübernahme des Militärs geendet hatte.

Dieser fast optimalen Informationssituation war es zu verdanken, daß wir manche Fehleinschätzungen im Verlauf unseres Aufenthalts korrigieren konnten. Vor allem verflüchtigten sich bald alle Spekulationen über die akuten Möglichkeiten des chilenischen Widerstandes und seiner Unterstützung von außen. Die Diskussionen mit den Kubanern ergaben, daß Mutmaßungen über eine internationale Intervention genauso revidiert werden mußten wie kurzsichtige Kritiken an der Politik der Unidad Popular. In beiden Punkten bewiesen die Kubaner häufig ein sehr viel größeres Maß an Realismus und Verständnis – vielleicht, weil sie die Entwicklung im Kontext der engen chilenisch-kubanischen Beziehung seit 1970 gründlicher und illusionsloser verfolgt hatten als manche europäische Teilnehmer es vor ihrer Reise nach Kuba.

Letztere verabschiedeten im Verlauf ihrer Diskussion eine Resolution, in der sie den faschistischen Militärputsch nachdrücklich verurteilten. Diese Erklärung wurde dem Geschäftsträger der chilenischen Botschaft in Kuba, Gonzalo Roja, der heute Präsident des chilenischen antifaschistischen Widerstandskomitees in Kuba ist, von den Leitern der jeweiligen nationalen Delegationen in La Habana übergeben.

Die kubanische Regierung hatte trotz mancher skeptischer Vorbehalte den Kurs der Volksfrontregierung unter Präsident Allende verschiedentlich als historisch einzigartigen revolutionären Prozeß gewürdigt und im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten politisch und materiell unterstützt. Wie recht sie mit ihrer Einschätzung des Putsches als eines nicht bloß innerchilenischen, sondern sozusagen subimperialistischen Vorgangs hatte, der tendenziell auch gegen den kubanischen Sozialismus gerichtet war, bewiesen die Angriffe der Militärjunta auf die kubanische Botschaft in Santiago und auf das kubanische Handelsschiff "Playa Larga", das in Valparaiso eine Zuckerladung gelöscht hatte. Diese beiden völkerrechtswidrigen Akte spielten in der Berichterstattung und in den Diskussionen eine große Rolle. Hatte es zuerst den Anschein, als erführen sie eine nationalistische Überbewertung, so wurde doch schon bald klar - auch im Zusammenhang mit den Protesten, welche die kubanische Regierung dem Generalsekretär und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 12. und 17. September unterbreitete‚ daß die ständige und auffallend breite Kommentierung beider Vorkommnisse eine wichtige Schutzfunktion: hatte: sie sollte die kubanische und die Weltöffentlichkeit auf etwaige weitere und größer angelegte anti-kubanische Aggressionen vorbereiten.

Nun beschränkten sich allerdings die kubanischen Reaktionen keineswegs auf. Die erwähnten Proteste. Der Tod des Präsident Allende, die - wenigstens vorübergehende - Niederlage des revolutionären Prozesses in Chile und die offene Beteiligung der Vereinigten Staaten am Militärputsch waren die beherrschenden Themen der kubanischen Solidaritätsakte und politischen Erklärungen. Am 12. September ordnete die kubanische Regierung eine dreitägige Staatstrauer für Salvador Allende an, und Zwar auch, um in ihm einen Freund und engagierten Fürsprecher der kubanischen Revolution zu ehren. Überall, auf dem Lande wie in der Stadt, sahen wir an den Fassaden, in den Hauseingängen und Schaufenstern Bilder des ermordeten chilenischen Präsidenten. Ob wir Schulen, Fabriken oder landwirtschaftliche Betriebe besuchten: überall konnten wir an den schwarzen Brettern, an den Photos und Texten, die dort aushingen, ablesen, welcher Achtung und Beliebtheit sich Allende in der kubanischen Bevölkerung über seinen Tod hinaus erfreute. Am 28. September, dem 13. Jahrestag der Gründung der Comités de Defensa de la Revolution (CDR), der dann jedoch ganz im Zeichen der Solidarität mit Chile stand, würdigten die auf der Plaza versammelten Kubaner den konsequenten Widerstand Präsident Allendes gegen die Putschisten als beispiellosen Heroismus, und sie reihten ihn deshalb unter die lateinamerikanischen Freiheitshelden Marti, Bolivar, Hidalgo und Che ein. Im Verlauf dieser Kundgebung, die eine Million Kubaner zusammenführte, schilderten und analysierten Beatriz Allende und Fidel Castro die Hintergründe und den Verlauf des Militärputsches, nicht ohne den Anteil der Vereinigten Staaten anzuprangern.

Weil das kubanische Volk erkannt hat, daß sich solche Akte tendenziell gegen jede revolutionäre Bewegung richten, daß sich darin nur die Politik wiederholte, derer sich die Vereinigten Staaten seit 1960 bedienten, um die kubanische Revolution niederzuwerfen, und weil es die Rolle des chilenischen Präsidenten und der Unidad Popular im lateinamerikanischen Emanzipationsprozeß für außerordentlich bedeutsam gehalten hat, hat es zwischen dem 13. und 28. September 1973 in zahlreichen - von den Massenorganisationen: CDR, Kommunistische Jugend, Schüler- und Studentenverband, Frauenföderation, Kleinbauernverband sowie von der Gewerkschaft und der Kommunistischen Partei veranstalteten - Versammlungen den Putsch in Chile und die amerikanische Beteiligung daran entschieden verurteilt und seine Solidarität mit dem chilenischen Volk zum Ausdruck gebracht.

Während unseres Aufenthaltes in Kuba standen die chilenischen Ereignisses natürlich im Mittelpunkt der Diskussion. Dennoch trat die Solidarität Kubas mit anderen unterdrückten Völkern und Befreiungsbewegungen nicht völlig in den Hintergrund.

In seiner Rede auf der vierten Gipfelkonferenz der Blockfreien Länder in Algier Anfang September 1973 hob Fidel Castro hervor, daß die Einheit dieser Länder auf revolutionären Prinzipien, einem gemeinsamen antiimperialistischen Programm und auf dem gemeinsamen Streben nach definitiven gesellschaftlichen Veränderungen beruhe. Die Blockfreien Länder seien verbunden im Kampf gegen Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus, wobei die Sowjetunion ihr zuverlässigster Partner sei. Castro protestierte dagegen, daß der US-Imperialismus immer noch das neokolonialistische Regime Südvietnams unterstützt und sich nicht an das Pariser Abkommen hält, gegen Israel, das UN-Resolutionen nicht beachtet, gegen rassistische afrikanische Staaten, die ihre Nachbarn bedrohen, und gegen Portugal, das mit Hilfe der NATO noch immer seine kolonialistische Herrschaft in Afrika ausübt.

Fidel Castro verlangte vom Kongreß konkrete Maßnahmen gegen all diese Aggressoren und die Unterstützung der Palästinenser, der afrikanischen Befreiungsbewegungen, der Provisorischen Revolutionsregierung Südvietnams sowie der Patrioten in Laos und Kambodscha. Er betonte, daß Kuba nötigenfalls bereit sei, mit seinem eigenen Blut zur Hilfe für diese unterdrückten Völker beizutragen.

Wie äußert sich nun der kubanische Internationalismus konkret? Er zeigt sich u.a. in der Arbeit kubanischer Ärzte, Krankenschwestern, Ingenieure und Architekten in Vietnam; im Wunsch der Arbeiterdelegierten des 13. kubanischen Gewerkschaftskongresses, eine Bauarbeiterbrigade nach Vietnam zu entsenden? in der Anwesenheit vieler vietnamesischer Stipendiaten in Kuba - dreißig Veterinärmediziner beendeten kurz nach unserer Abreise ihre Ausbildung in Kuba.

Überall im Lande wurden wir an Vietnam erinnert: Wandzeitungen in Schulen und Fabriken berichteten davon, der Wald in der Nähe unseres Campamentos im Escambray trug den Namen "Wald der Völker von Indochina", wir sahen Kindergärten und Schulen, die nach vietnamesischen Freiheitskämpfern benannt sind, und ein Teil des Hafens von La Habana heißt "Terminal Maritima Haiphong".

Während seines achtzehntägigen Aufenthaltes in Nordvietnam und den befreiten Gebieten Südvietnams sagte Fidel Castro, daß es eine große Ehre für Kuba sei mit Vietnam kooperieren zu dürfen und Pham Van Dong, der nordvietnamesische Premierminister, bezeichnete Kubas Solidarität mit Vietnam als glänzendes Beispiel des proletarischen Internationalismus.

Auch mit vielen anderen Ländern der "Dritten Welt" hat Kuba freundschaftliche Beziehungen und übt praktische Solidarität. Wir konnten in kubanischen Zeitungen und Zeitschriften die besonders intensive und detaillierte Berichterstattung über die Probleme Lateinamerikas und Afrikas verfolgen.

Vor dem Gipfeltreffen in Algier besuchte Fidel Castro Guayana und Guinea, wo er von Bevölkerung und Regierungen herzlich empfangen wurde. Nachdem Ende September 1973 in den befreiten Gebieten von Guinea-Bissau die Republik ausgerufen wurde, war Kuba einer der ersten Staaten, die den PAIGC dazu beglückwünschten, die neue Republik diplomatisch anerkannten und einen ihrer Vertreter einluden.

Zwölf Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ließ Kuba bisher medizinische Hilfe durch Entsendung von Ärzten und Krankenschwestern zukommen, teilweise nur für einige Monate, wie nach den Erdbebenkatastrophen in Nicaragua, wo 25 Kubaner im Rahmen des Roten Kreuzes arbeiteten, und in Chile 1971, wo ebenfalls kubanische Ärzte und Krankenschwestern sofort halfen? teilweise über Jahre hinweg wie in Algerien, wo seit 1963 zahlreiche kubanische Mediziner den Bauern und Arbeitern zur Verfügung stehen. Über hundert kubanische Ärzte, die jahrelang in chilenischen Krankenhäusern, vor allem auf dem Lande, gearbeitet hatten, mußten Chile wegen des Militärputsches sofort verlassen. Für Peru baute Kuba ein ganzes Provinzkrankenhaus, sammelte nach dem Erdbeben von 1970 innerhalb von 10 Tagen 100.000 Blutspenden und stellte Ärzte zur Verfügung.

Außerdem arbeiten kubanische Monteure und Bauarbeiter in der Demokratischen Republik Guinea, Techniker und Volksschullehrer in Algerien, Südyemen und Äquatorialguinea. An chilenischen Hochschulen lehrten kubanische Dozenten, vom kubanischen Staat bezahlt, und in Antofagasta wurde eine ganze Fachhochschule von Kuba gebaut und komplett mit didaktischem Material ausgestattet. Von einem Entwicklungsland wie Kuba verlangt solche Hilfe große Anstrengungen.

Kubas Internationalismus zeigt sich auch an seinen guten Beziehungen zu den sozialistischen Ländern Osteuropas und Asiens. Wie Kuba immer wieder betont und selbst erfahren hat, sind die sozialistischen Staaten der zuverlässigste Bündnispartner für die Länder der "Dritten Welt", Auch folgende Beispiele zeigen Kubas Verbundenheit mit diesen Staaten: ganz in der Nähe unseres Campamentos in der Provinz La Habana waren die Landinternate "Jorge Dimitrov" und "Yuri Gagarin", in einer anderen Provinz gibt es die Schule "Rosa Luxemburg" und nach Ernst Thälmann wurden eine wichtige Fabrik, ein Landinternat und. eine Bucht im Süden des Landes benannt. In Bayamo befindet sich die große Betonfabrik "Vladimir Jlich Lenin" und in Las Villas die Fabrik "Volksrepublik China".

Als wir am 2. September 1973 auf dem Flughafen von La Habana landeten, sahen wir noch überall die Transparente zur Begrüßung Ceaucescus, der gerade Kuba besuchte, und kurz nach unserer Abreise wurde Stanko Todorov, der Präsident des bulgarischen Ministerrats, herzlich in Kuba empfangen. Kuba lud zahlreiche Delegationen aus sozialistischen Ländern zur Feier des 13. Jahrestages der Gründung des CDR ein, u.a. aus der Sowjetunion, Ungarn und Bulgarien.

Zwischen Kuba und den sozialistischen Staaten besteht ein reger wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Austausch. So unterstützen 25 Ärzte aus der UdSSR die medizinische Forschung in Kuba, und während unseres Aufenthaltes wurde gerade ein Abkommen zur Zusammenarbeit zwischen den Universitäten von La Habana und Ulan Bator (Mongolische Volksrepublik) geschlossen. Wir trafen in Hotels Techniker und Spezialisten aus der DDR und der CSSR sowie Matrosen aus der UdSSR; in Fabriken sahen wir modernste technische Anlagen aus der Sowjetunion (Turbinen im Kraftwerk von Santiago) und der CSSR (Kühlschrank- und Haushaltswarenfabrik INPUD in Santa Clara); die Macheten, mit denen wir in der Landwirtschaft arbeiteten, kamen aus der Volksrepublik Korea.

An diesen Beispielen, die nur einen Ausschnitt aus der kubanischen Realität illustrieren, nämlich das von uns selbst Gesehene oder Erlebte, wird ersichtlich, daß Kuba nicht nur anderen Ländern hilft, sondern daß ihm auch die Hilfe geboten wird, die es als Entwicklungsland noch immer nötig braucht. Kuba ist aber trotz seiner eigenen wirtschaftlichen Probleme ständig zur Unterstützung anderer Länder bereit und handelt in erster Linie nach den Prinzipien des proletarischen Internationalismus.

Reise nach Cuba - 1973