Die Revolution schafft zwar andere Produktionsverhältnisse, aber hebt nicht automatisch das durch die alte Gesellschaft geprägte Bewußtsein auf. "Die neu sich bildende Gesellschaft muß einen sehr harten Kampf mit der Vergangenheit führen, die sich nicht nur im individuellen Bewußtsein niederschlägt, auf dem die Überreste einer systematischen Erziehung zur Isolierung des Individuums lasten, sondern auch im Charakter dieser Übergangsperiode selbst, in den Warenbeziehungen fortbestehen. Die Ware ist die ökonomische Zeile der kapitalistischen Gesellschaft; solange sie existiert, werden ihre Auswirkungen auf die Organisation der Produktion und folglich auf das Bewußtsein spürbar sein." (Ernesto Che Guevara: Partisanenkrieg - eine Methode / Mensch und Sozialismus auf Kuba, Trikont aktuell, S.30) "Damit der Mensch wieder von seiner Natur Besitz ergreife, ist es nötig, daß er aufhört, Ware zu sein. und daß die Gesellschaft ein anteiliges Quantum aushändigt als Gegenleistung für die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Pflicht. Die Produktionsmittel gehören der Gesellschaft und die Maschine ist wie der Schützengraben, wo die Pflicht erfüllt wird. Der Mensch beginnt, sein Denken von der Angst zu befreien, die durch die Notwendigkeit bedingt ist ist, seine unmittelbaren Bedürfnisse vermittels der Arbeit zu befriedigen. Er beginnt, sich in seinem Werk wiederzuerkennen und seine menschliche Größe durch den geschaffenen Gegenstand und die verwirklichte Arbeit zu erfassen. Seine Arbeit setzt nicht mehr das Aufgeben eines Teils seines Sein in Gestalt verkaufter, ihm nicht mehr gehörender Arbeitskraft voraus, sondern wird zu einer Äußerung seiner selbst, zu einem Beitrag zum Zusammenleben, zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Pflicht." (s.0. 5.36/37)
Mit dieser Beschreibung greift Che Guevara vor auf die kommunistische Gesellschaft, zu der die sozialistische der Übergang ist. Aufgabe im Sozialismus ist es, dafür zu sorgen, daß in den Volksmassen ständig die Auseinandersetzung zwischen den alten bürgerlichen Ideen und den neuen Ideen, die auf die kommunistische Gesellschaft vorbereiten, geführt wird. Dazu muß "die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit... eine riesige Schule werden" s.0. 5.33). In dieser Schule kommt es darauf an, daß man jeweils zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Schritte macht und dabei immer das Ziel im Auge behält. Es geht um die "Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion allseitig entwickelter Menschen." (MEW Bd.23, Das Kapital, S.508)
Es ist selbstverständlich, daß diese Erziehung in allen gesellschaftlichen Bereichen stattfindet.
Wir haben in Kuba versucht zu beobachten, wie diese Prinzipien der Erziehung praktisch verwirklicht werden.
SCHULWESEN
Kuba ist ein unterentwickeltes Land. Zum Zeitpunkt der Revolution waren von sechs Millionen Einwohnern eine Million Analphabeten. Eine der ersten revolutionären Maßnahmen war die große Alphabetisierungskampagne. Der Schulunterricht wurde Recht und Pflicht für alle, Alle, die lesen und schreiben konnten, unterrichteten diejenigen, die es noch nicht konnten. Jugendliche aus den Städten zogen aufs Land, wobei sie selbst im Kontakt mit den armen Bauern viel lernten. Ein kubanisches Mädchen aus unserer Brigade erzählte uns, daß es schon als Zehnjährige mit ihrem Vater an dieser Alphabetisierungskampagne teilgenommen und einer siebenköpfigen Bauernfamilie lesen und schreiben beigebracht hatte.
Zur Zeit sieht das Schulsystem folgendermaßen aus: Schulpflicht vom 6. bis 17. Lebensjahr. Vor dem 17. Lebensjahr darf niemand arbeiten, es sei denn im Rahmen der polytechnischen Erziehung. Es gibt:
1. die Primarschule (6. bis 12 Lebensjahr);
2. die Sekundarschule(12. bis 16. Lebensjahr);
3. die Vor- Universität (16-19 Lebensjahr). Dieses Studium dient der Orientierung, d.h. man kann sich in drei Fächern umsehen; eines dieser Fächer wählt man später für sein Universitätsstudium;
4. die Universität. Es gibt drei Universitäten in den Städten: La Habana, Sta. Clara und in Santiago de Cuba.
Nach der Sekundarschule gibt es drei Möglichkeiten, die Ausbildung fortzusetzen: Lehre, Fachhochschule, oder Universität. Auch das Universitätsstudium ist mit praktischer, Arbeit verbunden. Während des Semesters wird einige Stunden am Tage gearbeitet. In den Sommerferien arbeiten Studenten und Dozenten zwei Monate; ein Monat ist frei.
Um die Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu überwinden, wurde in Kuba ein besonderer Schultypus entwickelt, die Sekundarschule. Eine dieser Schulen, die "Secundaria Primero de Mayo"" (Schule des 1. Mai) konnten wir auf unserer Rundreise besuchen. Zu unserer Begrüßung hatte sich die Hälfte der Schüler eingefunden. Abwechselnd arbeiten die Schüler morgens bzw. nachmittags in der zur Schule gehörenden Landwirtschaft. Diejenigen, die morgens gearbeitet haben, erhalten nachmittags Unterricht und umgekehrt. Der Direktor, der Schülervertreter und der Vertreter der kommunistischen Jugend erklärten uns die Struktur der Schule: Außer den Lehrern hat die Schule einen Arzt, eine Krankenschwester einen Psychiater und einen Kinderpsychologen, die etwa 500 Schüler betreuen.
Die Schüler leben in der Schule und fahren an den Wochenenden nach Hause. Um guten Kontakt zwischen Eltern und Schule herzustellen, werden in den Sommerferien die Eltern eingeladen, eine Woche lang alle Aktivitäten an der Schule mitzumachen.
Vom Schüler erfuhren wir, daß es an jeder Schule zwei Organisationen gibt: Einmal die Schülervereinigung, die als Massenorganisation zu verstehen ist, in die jeder Schüler eintrete.. kann und die kommunistische Jugendorganisation, die wie die kommunistische Partei eine Kaderorganisation ist, in die nur besonders qualifizierte Mitglieder aufgenommen werden. Beide haben verschiedene Aufgaben: die Schülervereinigung organisiert das Lernen außerhalb des Unterrichts, sie sorgt dafür, daß alle Schüler das Ziel erreichen, während die kommunistische Jugendorganisation hauptsächlich für die politische Schulung zuständig ist. Nach diesen Informationen konnten wir uns die Unterrichts- und Schlafräume ansehen. Was uns besonders auffiel, waren die vielen politischen Wandtafeln, die darauf schließen ließen, daß den politischen Unterricht große Bedeutung zukommt. Schon in der Grundschule lernen die Kinder, daß sie nicht gegeneinander, sondern solidarisch miteinander für die Gesellschaft arbeiten sollen. In den höheren Klassen der Sekundarschule werden die Klassiker des Marxismus-Leninismus studiert. Daß sich die Schüler mit aktuellen Ereignissen auseinandersetzen, zeigte uns: die Fragen, wie wir in unserer Brigade auf den Putsch reagiert hätten, und die angeregten Diskussionen, die wir mit ihnen führten. Es gibt in Kuba keine getrennten Schulen für Jungen und Mädchen. Damit soll verhindert werden, daß Frauen, wie in der alten Gesellschaft , benachteiligt werden.
ERWACHSENENBILDUNG
Für Erwachsene gibt es ein Parallelschulsystem: Nach der Alphabetisierungskampagne gab und gibt es Kurse in den Abendstunden, in denen man den sechsten Schulgrad (Primarschulabschluß) erreichen kann. Wer weiterlernen will, hat die Möglichkeit, einen zweijährigen Sekundarschulkurs zu besuchen. Außerdem gibt es ein Austauschsystem zwischen Studenten der Vor-Universitätsstufe und Arbeitern. Während die Arbeiter studieren, übernehmen Studenten deren Arbeit im Betrieb.
JUSTIZ UND -STRAFVOLLZUG
Es gibt in Kuba neben den normalen Gerichtshöfen, die über die schweren Verbrechen urteilen, die sogenannten Nachbarschaftsgerichte, die für kleinere Delikte, z.B. Diebstahl zuständig sind. Jedes Nachbarschaftgericht hat drei Richter, die in dem jeweiligen Dorf wohnen müssen und von der Bevölkerung gewählt werden. Meistens sind es Arbeiter, die sich besonders für die Gemeinschaft eingesetzt haben. Sie bekommen eine kurze Ausbildung und üben dann ehrenamtlich aus.
Nicht nur diese Nachbarschaftsgerichte, sondern das ganze Justizsystem in Kuba ist auf Resozialisierung und Rehabilitation aufgebaut. Man betrachtet die Vergehen als Erscheinungen, denen andere Ursachen (z.B. Mangel an Wohnräumen) zugrundeliegen. Dabei vertritt man die Auffassung, daß nur dann wirklich Erfolg zu erwarten ist, wenn auch die Ursachen. der Straftaten beseitigt werden. Die "Strafen" sehen dann meist so aus, daß der "Angeklagte" z. B. verpflichtet wird, seinen Primarschulabschluß zu erreichen oder irgendeine Aufgabe für die Gemeinschaft auszuführen.
Bei den Verhandlungen dürfen die anwesenden Zuhörer ihre Meinung abgeben; das Urteil wird allerdings nur von den Richtern gesprochen.
Bei Freiheitsstrafen muß der Bestrafte meist in einem landwirtschaftlichen Betrieb zusammen mit den dort angestellten Arbeitern seine Strafe ableisten. Er erhält dann auch seinen normalen Lohn.
Normale Gefängnisse gibt es kaum. Die "Gefangenen" können am Anfang nicht nur einige Stunden in der Woche, sondern auch übers Wochenende Besuch empfangen. Später dürfen sie selbst übers Wochenende nach Hause und in einer weiteren Stufe sogar zu Hause wohnen, während sie auf den "Strafbauernhöfen" weiter arbeiten.
Die neuen Pläne zur Justizreform sehen vor, daß sich die übergeordneten Gerichtshöfe aus professionellen und Laienrichtern zusammensetzen. Aufgabe der Laienrichter ist es, ihre Lebenserfahrung als Werktätige in die Rechtsprechung einzubringen. Die professionellen Richter werden unter Beteiligung der Massenorganisationen gewählt. Sie sind ihren Wählern rechenschaftspflichtig und können jederzeit abgewählt werden. An der Diskussion der Justizreform haben mehr als drei Millionen Kubaner teilgenommen.
Reise nach Cuba - 1973