Am Stadtrand von Santa Clara liegt die AGROMECANICA, eine Fabrik für landwirtschaftlichen Bedarf. Hier werden Ersatzteile für schwere Maschinen – besonders in der Zuckerrohrverarbeitung - hergestellt und außerdem sowjetische Zuckerrohrschneidemaschinen und Verlademaschinen montiert, Der US-Wirtschaftsboykott und dadurch bedingte Schwierigkeiten in der Ersatzteilbeschaffung - auch für ältere Maschinen aus den USA und anderen kapitalistischen Ländern - waren der Anlaß für den Bau dieser Fabrik. Die Hallen sind sehr weit, geräumig und gut gelüftet durch einen durchbrochenen Bau der Wände und einen offenen Raum zwischen Wand und Deckenkonstruktion. Trotz der Gießerei und dem damit verbundenem Schmutz sind die Wände der Hallen innen und außen hell gestrichen (ocker mit seegrün). Um die Hallen herum gibt es gepflegte Grünanlagen – verschiedene Palmenarten und Zierbüsche - und vor der Versammlungshalle befindet sich ein Pausengarten mit Bänken, Springbrunnen und Grünpflanzen. Diese Fabrik wurde 1964 von Che Guevara eröffnet, der damals Kubas Industrieminister war.
Etwa die Hälfte der Brigade besichtigt die Fabrik, während die anderen inzwischen denn Kuba hat keinerlei Bodenschätze, auf die man eine Industrie dieser Art aufbauen könnte. Auf diesem Gebiet ist es fast vollständig auf Importe angewiesen. Die vier größten Maschinenfabriken sind mit der Produktion von Maschinenersatzteilen für Landwirtschaft und Eisenbahn vollauf beschäftigt. Deshalb ist es Auch nicht verwunderlich, wenn wir auf den Straßen Kubas oft noch alte nordamerikanische Straßenkreuzer sahen. Einige von diesen Autos blieben Privatbesitz, andere wurden vom Staat übernommen und stammen von dem Teil der Bevölkerung, der nach der Revolution Kuba verließ. Diese Wagen wurden an die verschiedenen Massenorganisationen verteilt Jeder, der aufgrund seines Berufes sehr viel unterwegs ist und große Strecken zurücklegen muß, erhält einen. Sie werden dann so lange benutzt, bis sie regelrecht auseinanderfallen, und selbst dann versucht man noch mit Phantasie und Erfindungsgeist, sie wieder fit zu machen. Für den Transport zur Arbeit und zurück werden von den Betrieben Lastwagen und Busse zur Verfügung gestellt, Das öffentliche Verkehrsnetz ist trotz seiner erheblichen Erweiterung noch immer unzureichend. in einer Fabrik für Kühlschränke und andere Haushaltswaren sind. Als wir kurz nach 14.00 Uhr ankommen, ist gerade Schichtwechsel. Wir werden zunächst in einer Versammlungshalle empfangen, wo wir eine Einführung in die Verhältnisse, Zahlen und Produktionsprogramme der Agromecánica und allgemeinere Fragen diskutieren können. Zu unserer Begrüßung haben auf dem Podium sechs Personen Platz genommen: Vertreter der Gewerkschaft, der Partei, der Jungkommunisten und ein Ökonom - alle Mitglieder der Administration. Um uns herum, hinten im Saal und draußen an den fensterartigen Durchbrüchen der Glas- und Stahlkonstruktion stehen etwa 200 Arbeiter, die wohl gerade Schichtwechsel haben und verfolgen aufmerksam den Vortrag und die Diskussion. An der Stirnwand der Halle befindet sich ein dunkles Tuch, auf dem ein Gruß für uns in roten Buchstaben befestigt ist: "Viva el internacionalismo proletario" (Hoch der proletarische Internationalismus).
In der Agromecánica sind 1.800 Personen beschäftigt. Die meisten haben eine qualifizierte technische Ausbildung, denn hier werden vor allem Einzelteile angefertigt, und für diese Arbeit muß man Zeichnungen lesen und jeden Arbeitsgang der Maschine überwachen können. Die Agromecánica hat für die Ausbildung und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter eine enge Zusammenarbeit mit der Universität von Santa Clara entwickelt. Z.Zt. unseres Besuches nehmen 470 Arbeiter an technischen Fortbildungskursen teil. 63 Arbeiter sind drei Tage in der Woche freigestellt für ein breiteres Studium an der Universität, um bestimmte Qualifikationen, die im Betrieb benötigt werden, zu erwerben. Über 100 Studenten arbeiten regelmäßig in der Fabrik, um die Arbeitsplätze der studierenden Arbeiter auszufüllen, z.T. in Praktika, die mit der Ausbildung zusammenhängen. Medizinstudenten müssen z.B. ein Fabrikpraktikum machen, um arbeitsmedizinische Probleme auch von der praktischen Erfahrung her beurteilen zu können. Unfallschutz und Sicherheitsmaßnahmen scheinen sehr gut zu funktionieren. In dieser Fabrik gab es alles in allem im vorigen Jahr 45 Arbeitsunfälle. (Das sind 25 pro Tausend, in der BRD gab es 1972 in der Eisen- und Metallbranche 148 pro 1000 Arbeiter angezeigte Arbeitsunfälle, laut Handelsblatt vom 7.12.1973). Seit Bestehen der Fabrik gab es noch keinen tödlichen Unfall. Die Arbeiter tragen, wo es nötig ist, Sicherheitshelme, Sicherheitsschuhe, Asbestschürzen, -hosen und dunkle Brillen.
Auf unsere Frage nach der Produktivität wird berichtet, daß im vorigen Jahr 113 % des Plansolls erfüllt wurden und daß man in diesem Jahr damit rechnet, 117 % zu schaffen. Wir wollen wissen, wie so eine Übererfüllung zustandekommt: durch Anstöße von außen, durch Selbstverpflichtung, durch besondere Leistungsanreize oder wie sonst. In dieser Fabrik läuft das so: Es werden die Ersatzteile hergestellt, die von Fabriken überall im Lande angefordert werden. Man kann also nicht irgendeinen Plan aufstellen, daß so und so viel Tonnen Eisen und andere Rohstoffe verarbeitet werden sollen, und dann wird drauflosgearbeitet. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt werden ganz bestimmte Teile benötigt und hergestellt. Oft kommt es dabei zu Terminschwierigkeiten, weil wichtige Ersatzteile kurzfristig gebraucht werden. Es kommt also immer wieder vor, daß z.B. in einer Zuckerrohrmühle sehr wichtige Teile ausfallen und daß die Fortführung der Produktion dort von der schnellen Lieferung des Ersatzteils abhängt. Je nach Umfang der Arbeit wird dann mit einem Teil der Belegschaft oder in einer Vollversammlung diskutiert, wie schnell das Teil oder der Auftrag fertiggestellt werden sollten, ob dafür Überstunden angesetzt werden müssen, wie viele, unter welchen Bedingungen etc.. Die Übererfüllung des Plansolls kommt also aufgrund dringender Aufträge und einer gemeinsamen Entschließung der Belegschaft zustande.
Wir wollen wissen, wie sich die Arbeiter politisch organisieren. Über 500 Arbeiter sind aktiv in politischer Arbeit tätig. Zehn bis zwölf Prozent der Belegschaft sind Mitglieder der Kommunistischen Partei. (Die kommunistische Partei Kubas ist eine Kaderpartei; 12 % ist ein verhältnismäßig hoher Anteil.) Etwa 200 Arbeiter (weitere 13 %) sind Jungkommunisten (bis zu 27 Jahren), da ein großer Teil der Belegschaft ziemlich jung ist. Das Durchschnittsalter beträgt 28 Jahre.
Wir fragen, wie es mit dem vieldiskutierten Problem des Absentismus (Blaumachen) aussieht, und wir sind ziemlich überrascht, daß die Zahlen sehr niedrig sind und das Problem dennoch sehr aufmerksam gehandhabt wird. Alle nicht zur Arbeit erscheinenden Beschäftigten zählen zunächst einmal als abwesend; d.h. Krankheit, familiäre Gründe und echtes Blaumachen werden zusammengezählt und betrugen im Jahr 1972 durchschnittlich 3,5 % Die Zahlen vermindern sich ständig, so daß man in den letzten drei Monaten auf 2,5 % gekommen ist. Man hat eine Kommission gegen den Absentismus gegründet, Die Mitglieder sprechen mit den Betroffenen zunächst darüber, warum sie nicht zur Arbeit gekommen sind. Gab es Krankheit in der Familie, andere Schwierigkeiten oder besondere Probleme? Man versucht, den "Bummlern" klarzumachen, daß durch ihr Fehlen nicht nur ihre eigene Arbeitsleistung verloren geht, sondern daß oft viele Kollegen von diesem Fehlen direkt betroffen sind, weil sie mit ihrer Arbeit nicht weiterkommen. (Wenn z.B. der Kranführer fehlt, kann unter Umständen eine ganze Abteilung nicht richtig arbeiten.) Für Leute, die trotz Nachfragen, Hilfeangeboten und Erklärungen doch immer wieder blaumachen, gibt es eine Art Disziplinargericht, das über weitere Maßnahmen entscheiden kann, in schwersten Fällen gibt es eine Einweisung in ein Arbeitslager - aber niemals Entlassung aus dem Produktionsprozeß und damit Wegfall des Mindestlohnes und Entzug der Existenzgrundlage für die Familie.
Nach der Diskussion machen wir einen Rundgang durch die Fabrik. Zehn bis fünfzehn Brigadisten gehen mit jeweils drei oder vier Leuten aus dem Betrieb. Während des Rundganges haben wir ausreichend Zeit zu Fragen und Diskussionen. Die Arbeiter sind in diesem Land und in dieser Fabrik Eigentümer und Produzenten zugleich, d.h. die Voraussetzungen sind gegeben, eine neue, nicht-entfremdete Einstellung zur Arbeit zu gewinnen. Wird davon etwas in der Fabrik sichtbar? Wirkt sich das auf die Arbeitsorganisation und die Arbeitslust aus? Diese Fragen haben viele von uns im Hinterkopf. Es ist nicht so einfach, darauf eine Antwort zu bekommen, die nachprüfbar, sozusagen photographierbar ist.
Mir fallen die vielen selbstgemachten Wandtafeln auf, auf denen besondere Ereignisse der Fabrik dargestellt werden, wie z.B. Photos von der Einweihung der Fabrik durch Che Guevara und dazu eigene Texte. Überhaupt findet man eine starke Verbundenheit mit "dem Che", die auch in Gesprächen immer wieder deutlich wird. "Die Qualität ist der Respekt vor dem Volk", diesen Spruch hat ein Arbeiter über seinen Arbeitsplatz gehängt. Ursprünglich soll ihn der Che benutzt haben, als er die Cuba-Cola-Produzenten öffentlich für den schlechten Geschmack des Getränks rügte; wer dem Volk solch ein Getränk anbiete, habe keinen Respekt vor ihm, denn "die Qualität ist der Respekt vor dem Volk".
Wir unterhalten uns über die Maschinen, technische Vorgänge, Arbeitszeit und Entlohnungssystem. Es wird z.Zt. stark diskutiert, ob man vom Zeitlohn auf Leistungslohn umstellt, um die Produktion zu erhöhen, d.h. um Leistungsanreize zu bieten. Wir fragen, ob das nicht egoistische Grundhaltungen wieder verstärkt und ob damit nicht der Prozeß einer neuen Bewußtseinsbildung zurückgeworfen wird. Die Gegenfragen lautet: Was nützen uns fortschrittliche Bewußtseinskonzeptionen, wenn wir ökonomisch nicht überleben? Kuba ist eben ein armes, unterentwickeltes Land und alle müssen sich anstrengen, um die Produktivität und damit den Lebensstandard und die Konsummöglichkeiten zu heben.
In einer Halle kommen wir an einem sehr monotonen Arbeitsplatz vorbei: einer Stanzmaschine, die von Hand bedient wird. In gleichmäßiger Reihenfolge muß das zu stanzende Teil unter die Maschine gelegt werden - Hebel bedienen – gestanztes Teil wegnehmen - neues Stück unterlegen usw. usw.. Wir fragen nach den Arbeitsbedingungen an diesem Arbeitsplatz und erfahren: Der Arbeiter arbeitet jeweils nur eine Stunde an dieser Maschine und wird dann abgelöst, so daß mehrere Arbeiter sich diese unangenehme und nervenaufreibende Arbeit teilen.
In der Gießerei hat man die Arbeitsvorbereitung so eingerichtet, daß wir an einem Gußvorgang teilnehmen können. In der Halle stehen etwa zwanzig verschieden große gußfertige Formen; die Hohlformen stehen in Eisenbehältern und sind mit Sand und Sägespänen abgedeckt. Wir werden mit dunklen Brillen ausgestattet und gesellen uns zu den Arbeitern, die in respektvollem Abstand den großen Kessel beobachten, in dem es brodelt und zischt und aus dem ab und zu weißglühendes Erz heraustropft. Es dauert einige Zeit, bis die Masse die richtige Temperatur hat. Dann wird der Kessel mit mechanischen Hebevorrichtungen und Stangen vom Ofen gehoben und an den Kran gehängt. Der Kran fährt langsam und meterweise von einem Gußblock zum nächsten, der Kessel wird zurechtgeschoben, das Gußloch geöffnet und zischend und funkensprühend fließt das Eisen in die Form. Wir alle, Arbeiter und Besucher, sind fasziniert von dem Vorgang.
Zwischendrin unterhalten wir uns weiter. Jeder, so gut er mit seinen geringen oder besseren Spanischkenntnissen kann. Man spricht vom sozialistischen Wettbewerb und der Auszeichnung der guten Arbeiter. Was ist ein "guter" Arbeiter? Er muß drei Kriterien sehr weitgehend entsprechen: Nach dem Maße seiner Fähigkeiten soll er sich voll in der Produktion oder sonstigen Arbeit einsetzen; seinen Kollegen gegenüber soll er sich solidarisch verhalten, ihnen weiterhelfen, Probleme erkennen und zu lösen versuchen, ein gutes Arbeitsklima verbreiten; mit dem Aufbau des Sozialismus in Kuba soll er übereinstimmen und das durch sein Verhalten in der Arbeit und Freizeit zeigen, z.B. durch die Teilnahme an politischen Schulungen, an freiwilliger Arbeit, durch Pünktlichkeit und Disziplin. Man spricht hier von dem "integralen Menschen", dem ganzheitlichen Menschen, bei dem Arbeit, Mitmenschlichkeit und Politik den Hintergrund seines Verhaltens bilden. Bei unseren Diskussionen werden immer wieder die Produktionsbesprechungen erwähnt. In dieser Fabrik werden monatlich bis zweimonatlich Produktionsbesprechungen der Belegschaft abgehalten. Dabei gibt es Gelegenheit, alle Angelegenheiten, die die Belegschaft betreffen, zu diskutieren. Zunächst wird von der Administration über den Stand der Sollerfüllung berichtet. Anschließend wird diskutiert, wie man den augenblicklichen Stand erreicht hat, warum nicht mehr produziert wurde, was es zur Arbeitsorganisation und Arbeitsvorbereitung durch die Administration zu sagen gibt, wo unnötige Produktionsausfälle vorgekommen sind und wie man die abstellen kann. Weiterhin ist Gelegenheit, einzelne Beschäftigte zu loben oder zu kritisieren - und zwar auf jeder Stufe der Arbeit, d.h. Auch Mitglieder des Verwaltungsrates. Vorschläge aus den Produktionsversammlungen müssen von der Betriebsleitung zur Kenntnis genommen werden, sind aber nicht bindend. Allerdings muß in der folgenden Versammlung berichtet werden, was aus den Vorschlägen geworden ist; falls ein Vorschlag nicht aufgenommen wird, muß das begründet werden.
Uns schien besonders wichtig, daß durch die Produktionsbesprechungen den Produzenten ihre eigene Tätigkeit durchschaubar wird. Man erfährt Einzelheiten über Verwaltungsfragen, Arbeitsorganisation und Gründe für Engpässe. Man erfährt, wieviel man produziert hat, wie das im Verhältnis zum Plan, d.h. zur gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung der Produktion des laufenden Jahres steht. Es ist also nicht mehr so, daß man Tag für Tag seinen zugeteilten, abgehackten Part in einem undurchschaubaren Gesamtprozeß produziert. Im Gegenteil, man weiß sehr wohl, wie sich die eigene Arbeit in den gesamten Prozeß des Wirtschaftens und Verbrauchens einordnet. Ein älterer Arbeiter sagte mir: "Jetzt arbeiten wir oft viel mehr als früher, aber wir wissen, wofür".
Reise nach Cuba - 1973