»Das Schlimmste ist das Schweigen der Presse«

Mit der Rückkehr rechter Regierungen in Lateinamerika nimmt auch die Unterdrückung der Arbeiterbewegung wieder zu. Ein Gespräch mit Gustavo Triani.

Gustavo Triani gehört der argentinischen CGT an und ist für den Handel zuständiger Sekretär der internationalen Dienstleistungsgewerkschaft UNI Américas

Gustavo Triani, Handelssekretär der Dienstleistungsgewerkschaft UNI Américas

Gustavo Triani, Handelssekretär der Dienstleistungsgewerkschaft UNI Américas
Foto: privat

Seit Ende vergangenen Jahres Mauricio Macri Präsident Argentiniens. Wie haben sich die Bedingungen für die Gewerkschaften seither verändert?

Leider befinden wir Gewerkschafter uns in einer komplizierten Lage. Von Dezember bis April gab es fast 70.000 Entlassungen, zunächst vor allem im öffentlichen Dienst, aber auch im Privatsektor. Die Währung ist um 40 Prozent abgewertet worden, die akkumulierte Inflation für dieses Jahr wird auf mehr als 30 Prozent geschätzt, die Arbeitslosigkeit könnte auf acht bis zehn Prozent steigen, insgesamt könnten mehr als eine Million Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren.

Als Gewerkschaften sind wir alarmiert, zumal mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Lage auch die Unterdrückung von Demonstrationen und Aktionen und die Repression gegen die Arbeiter und Volksschichten zunehmen, das gab es vorher nicht. Das Schlimmste dabei ist das komplizenhafte Schweigen der Presse und der großen Medienkonzerne.

Der Staat zieht sich aus allen Bereichen zurück und gibt die Preis- und Inflationskontrolle auf. Es ist nicht so, dass sie uns betrogen hätten – sie haben von Anfang an erklärt, dass sie die Preise erhöhen und den Import ausländischer Waren erleichtern wollen, und genau das tun sie. Sie wollen, dass sich der Staat aus den wirtschaftlichen Angelegenheiten heraushält und zurück zu Verhältnissen wie in den 1990er Jahren, zu einem »schlanken Staat« und ungezügeltem, aggressivem Neoliberalismus.

Im Wahlkampf haben sie der bisherigen Regierung vorgeworfen, einen bankrotten Staat hinterlassen zu haben, der in Flammen stehe. Diese Wahrnehmung ist schon merkwürdig, denn die Erwerbslosigkeit lag bei sechs Prozent, mit einem Wirtschaftswachstum von vier Prozent im vergangenen Jahr, jährlichen Lohnsteigerungen für die Beschäftigten, Förderungen und Maßnahmen zugunsten der Arbeiterklasse und der ärmsten Schichten der Bevölkerung. Früher privatisierte Staatsunternehmen wurden wieder aufgebaut, wie die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas, die Eisenbahngesellschaft oder der Erdölkonzern YPF. Natürlich gab es einige Maßnahmen, die nicht richtig waren und zu korrigieren waren – so wurde die Währungspolitik nicht unbedingt auf fester Grundlage entwickelt. Und es gab ständige Attacken aus Unternehmerkreisen, die versuchten, die Lage zu destabilisieren. Vergessen wir außerdem nicht das Mediengesetz, das Presse, Rundfunk und Fernsehen in Argentinien demokratisiert hat. Das wird nun zurückgedreht, alle Macht und aller Einfluss wird wieder der Clarín-Gruppe zugeschoben (führender Medienkonzern Argentiniens, der unter anderem die gleichnamige Tageszeitung herausgibt; jW). Oppositionelle Stimmen werden zum Schweigen gebracht, kritische Journalisten werden entlassen. Mehrere Sender wurden abgeschaltet.

Die Gewerkschaftsbewegung beobachtet derzeit, wie sich die Lage weiterentwickelt. Die Spitzen der großen Gewerkschaftsverbände CGT und CTA bemühen sich um vereintes Agieren. Aber die gesellschaftliche Situation ist besorgniserregend.

Die neue Regierung einigte sich schnell mit den »Geierfonds« aus den USA, die Milliardenforderungen an Argentinien gestellt hatten. Wie bewerten Sie das?

Natürlich ist es immer gut und richtig, wenn Wege gefunden werden, damit sich streitende Parteien einigen und Konflikte beigelegt werden. Und Staaten müssen natürlich ihre Verbindlichkeiten begleichen. Das Problem ist die Spekulation, die von diesen Fonds mit staatlichen Schuldverschreibungen betrieben wird. Sie kaufen kaum noch eintreibbare Forderungen zu extrem niedrigen Preisen auf, um dann von den Schuldnern die Begleichung in voller Höhe zuzüglich völlig absurder Zinsforderungen zu verlangen. Natürlich wollen diese Unternehmen Geld verdienen. Das ist legitim, aber das darf nicht bedeuten, dass dem Volk Opfer auferlegt werden, um diese Gewinnerwartungen zu befriedigen. Man darf nicht ein Land auf die Knie zwingen, damit es eine Schuld bezahlt. Der frühere Präsident Néstor Kirchner fasste es mal so zusammen: Tote zahlen nicht.

Präsident Kirchner gehörte zu den Staatschefs in Lateinamerika, die seit Ende der 90er Jahren an die Macht kamen und einen eigenständigen Entwicklungsweg beschritten. Dieser »Linksruck« scheint Vergangenheit zu sein, wenn wir die jüngsten Wahlen in Argentinien und Venezuela oder auch das zu Jahresanfang in Bolivien von der Regierung verlorene Referendum betrachten. Was bedeutet das für die lateinamerikanische Gewerkschaftsbewegung?

Als UNI, als globale Gewerkschaftsorganisation, respektieren wir jede Entscheidung, die durch freie und demokratische Wahlen herbeigeführt wird. Die Politik unserer Gewerkschaften ist nicht, dass wir uns in solche Dinge einmischen, sondern wir achten die jeweiligen Institutionen. Wir verlangen, dass der demokratisch ausgedrückte Wille des Volkes anerkannt wird, und wir bekämpfen somit auch jeden institutionellen Putsch oder Staatsstreich.

Deshalb hat sich die UNI Américas auch mit der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff solidarisiert?

Ganz richtig. Unabhängig von jeder politischen Richtung mussten wir feststellen, dass ein Teil der Bevölkerung mit ihr einverstanden war und ein anderer nicht, aber bei den letzten Wahlen wurde Dilma Rousseff gewählt. Wir haben gefordert, dass diese demokratische Entscheidung respektiert wird und auf jede institutionelle Gewalt oder von Unternehmern geführte Kampagne, um die Gewählten zu stürzen, verzichtet wird. Die UNI lehnt solche Formen von Staatsstreichen generell ab. Wir verlangen, dass die Menschen- und Gewerkschaftsrechte respektiert werden.

Die Branche, für die Sie in der UNI Américas zuständig sind, der Handel, ist in mehreren Ländern Lateinamerikas zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen geworden. Speziell in Venezuela sieht man lange Schlangen vor den Geschäften, Regierung und Handelsunternehmen machen sich gegenseitig für die Warenknappheit verantwortlich.

In diesem Wirtschaftsbereich Venezuelas ist keine Gewerkschaft der UNI Américas angeschlossen, aber wir beobachten natürlich mit Sorge die Lage dort. Wir denken, dass zumindest Teile der Probleme dort durch Unternehmen und deren Interessen verursacht werden, die Präsident Nicolás Maduro und dessen Regierung zur Änderung ihrer Politik oder zur Rücknahme von Maßnahmen zwingen wollen, die sie für falsch halten. Das droht zu einer Erschöpfungskampagne zu führen, die auf dem Rücken des venezolanischen Volkes ausgetragen wird. Wir fordern, dass diese Konflikte auf demokratische und transparente Weise gelöst werden und die gewählten Institutionen respektiert werden. Die gewerkschaftlichen und Menschenrechte müssen geachtet werden und Gewalt muss verhindert werden.

Generell gesprochen haben die fortschrittlichen Regierungen viel erreicht, aber es mangelte ihnen oft an einer einheitlichen, kohärenten Linie, auch zum Beispiel in ihrer Informationspolitik. Manche haben sich geirrt und einen sehr harten Kurs eingeschlagen, der auch harte Reaktionen provoziert hat. Ein Fehler der progressiven Regierungen war es sicherlich, nicht an einem bestimmten Punkt innegehalten und überprüft zu haben, was gut und was weniger gut gelaufen ist, um so gemachte Fehler nicht weiter zu vertiefen, sondern voranzukommen.

Hilft oder schadet es der lateinamerikanischen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, dass in mehreren Ländern Präsidenten regieren, die selbst aus den Gewerkschaften stammen, etwa Evo Morales in Bolivien oder Nicolás Maduro in Venezuela?

Schlecht ist das auf jeden Fall nicht, denn jeder hat das Recht, Präsident zu werden. Unternehmer können Präsidenten werden, warum sollte dann nicht auch ein Arbeiter Präsident werden können? Natürlich hilft es, wenn ein Staatschef aus der Gewerkschaftsbewegung stammt, denn man kann anders miteinander reden. Er kennt dann die Sichtweise und Standpunkte seines Verhandlungspartners aus eigener Erfahrung, und er weiß, wie die Arbeiter in seinem Land leben – oder sollte es zumindest wissen. Zudem kann er bei Verhandlungen mit den Unternehmern bereits einschätzen, wie die Gewerkschaften auf deren Forderungen reagieren oder welche Folgen diese für die Arbeiterklasse hätten – und so als Vermittler schon im Vorfeld bestimmte Konflikte verhindern.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

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André Scheer
Junge Welt, 20.07.2016