Jorgitos Log:
Perdidos – Lost

Jorgito Jerez Belisario


Die Kubanische Revolution schreibt unglaubliche Geschichten.

Jorge Enrique Jeréz Belisario kam 1993 mit einer schweren spastischen Lähmung auf die Welt. Er selbst sagt, dass es Jorgito el Camagüeyano nur deshalb heute noch gibt, weil er unter der schützenden Hand der Revolution aufwachsen konnte. So verwirklicht er heute seinen Lebenstraum und studiert Journalismus.
Jorgito war einer der wichtigsten Aktivisten im Kampf für die Freilassung der »Cuban Five«. Besonders verbunden ist er Gerardo Hernández, dessen Rückkehr nach Kuba er im Dezember 2014 feiern durfte. Der Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen«, der Jorgitos Leben erzählt, ist über die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba erhältlich.

Jorgito bloggt regelmäßig auf http://jorgitoxcuba.wordpress.com/.
Die CUBA LIBRE ehrt er mit einer regelmäßigen Kolumne.


lost (l(o)st; lost adj. verloren verloren(gegangen),
zerstört, vernichtet,
zugrunde gegangen;
verirrt; verschwunden;
verschwendet, vergeudet Lost:

US-Fantasy-Fernsehserie (2004–2010)


Die Rede ist im Folgenden nicht von der beliebten, von Jeffrey Jacob Abrams produzierten US-Fernsehserie Lost, obwohl auch die Hauptfiguren dieser Zeilen auf einer Insel überleben müssen und, den Aussagen einiger Menschen vor allem aus der älteren Generation zufolge, "lost" sind. Wer das bezweifelt, möge durch Kubas Straßen spazieren und dem wiederkehrenden Satz lauschen: "Die Jugend ist verloren", eine Aussage, die derzeit in Mode ist.

Schon im Jahr 1953 hatte der kubanische Intellektuelle Jorge Mañach dasselbe behauptet und hinzugefügt, dass sich die jungen Menschen nur für Tanz und Parties interessieren würden. Er fragte: Wo sind die Céspedes und Agramontes (zwei große Figuren der kubanischen Unabhängigkeitskämpfer, der Mambisen, d. Ü.) geblieben? Drei Monate später kam die Antwort: Eine Gruppe von jungen Menschen attackierte die Moncada-Kaserne. Da war sie, die Mambisen-Kavallerie, die Mañach gefordert hatte!

Nun gut, wir leben heute nicht mehr in Zeiten, in denen sich die Leute an der Moncada beweisen oder fünfmal den Pico Turquino besteigen müssen. Auch müssen sie nicht nach Angola oder Äthiopien gehen, um ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wie es unsere Onkel, Väter und Großväter getan haben. Jemand sagte mir einmal, dass die Jugend von heute genauso revolutionär ist wie sie es in anderen Zeiten war. Aber wozu diese Vergleiche anstellen.

Heutzutage muss man allerhand hin- und herrechnen, um herauszubekommen, ob das Einkommen nun zum Leben, für Kleidung und darüber hinaus noch für die Freizeitaktivitäten reicht. Wir machen uns Sorgen darum, dass wir mehr Geld für Verkehrsmittel ausgeben müssen als für das Ausgehen an sich, und wenn wir zusammenzählen, was wir für Schuhe, Klamotten und den Haushalt ausgeben, dann stellen wir fest, dass uns praktisch nichts bleibt.


Aus diesem Grund entstehen andere Einnahmequellen, angefangen vom „Papa, ich brauche Geld“ über Geschäfte oder den Nebenjob. Schließlich sind wir immer noch mit dem Phänomen der umgekehrten Pyramide konfrontiert: Viele Uniabsolventen verdienen immer noch weniger als Menschen ohne Hochschulabschluss, und die Beschäftigten im nicht-staatlichen Sektor verdienen mehr als die Staatsangestellten. Ein wachsender Eindruck besagt, dass diejenigen, die arbeiten gehen, zugleich die sind, die es am schwersten haben. Die Zeiten ändern sich, und nicht immer kommt man gedanklich hinterher, diese Veränderungen auch zu verarbeiten.

Diese "Verlorenen" sind dann aber auch dieselben, die, wenn sie sich erst einmal von einer Idee haben überzeugen lassen, auf einen Marsch gehen, auf einen freiwilligen Arbeitseinsatz, die Blut spenden, stundenlang in einem Labor stehen, um eine neue Impfung zu entwickeln oder auf dem Acker unter der Mittagshitze Lebensmittel produzieren.

In derselben Geschwindigkeit, in der uns die Veränderungen erreichen, müssen auch wir uns verändern. Wenn der Prophet nicht zum Berg will, dann muss man eben den Berg zum Propheten bringen, koste es, was es wolle. Unter diesen Umständen muss die Unión de Jóvenes Comunistas, also die Organisation, die verfassungsgemäß für die jungen Kubanerinnen und Kubaner bis einschließlich 35 Jahre zuständig ist, so sie den diesen Anspruch einlösen will, mehr tun als Treffen, feierliche Akte und den Einzug des Beitrags. Sie muss sich dem Ziel verschreiben, mit interessanten Inhalten eine Masse von Jugendlichen zu erreichen, die danach ruft, sich repräsentiert fühlen zu können.

Wir befinden uns nicht mehr in den 1960er Jahren. Heute kommt es für die UJC darauf an, im 21. Jahrhundert ihre Tauglichkeit unter Beweis zu stellen. Nur so wird man verhindern können, Terrain an diejenigen abzugeben, die auf den Generationenwechsel setzen, um so den kubanischen Sozialismus abzuschaffen.

Nur durch einen innigen Kuss inmitten eines Parks, durch das Hören von Reggaeton, Rock oder irgendeiner anderen Art von Musik oder auch dadurch, dass wir alles und jeden kritisieren, stehen wir noch lange nicht in der engeren Auswahl für die nächste Staffel von Lost. Die "Verlorenen" zu finden, dürfte nicht so schwer sein, es reicht doch schon die Feststellung, dass wir von Natur aus Rebellen sind, an die Veränderung glauben und davon überzeugt sind, dass eines Tages alles besser wird. Weil wir so sind, wie wir sind, unterschiedlich, fröhlich und auf alle Zeiten uneinverstanden, sind wir zu den Hauptfiguren der großen Revolutionen der Menschheit geworden. Verlangt nicht von uns, dass wir uns in etwas anderes verwandeln – nehmt uns so, wie wir sind.

In Kuba leben vor allem drei Generationen zusammen: Jene, die den revolutionären Prozess in die Welt gesetzt hat, die die Moncada-Kaserne attackiert hat, in die Sierra gegangen ist und die Batista-Tyrannei gestürzt hat; jene der Kinder der Revolution, welche die Aufgabe hatten, diese großzuziehen, was eine schwierige Aufgabe war, denn der Aufbau eines Nationenprojektes wie das unsrige ist alles andere als ein einfacher Job; und die meine, die der Jugendlichen von heute, mit genauso komplexen Herausforderungen wie die unserer Eltern und Großeltern.

Wir sind die Kinder der Sonderperiode und haben als solche das wohlhabende Kuba der 1980er Jahre nicht mehr miterlebt, die Zeit des vermeintlichen Werteverfalls, der großen Veränderungen im Bildungsbereich, der Alleskönner-Lehrer und der Schlacht der Ideen. Wir sind die Generation, der in Kürze eine Aufgabe zukommt, deren Ausmaß wir uns manchmal kaum vorstellen können. Die Zukunft, von der es seit einigen Jahren heißt, sie werde in den Händen der Jugend liegen, ist bereits zur Gegenwart geworden.

Jetzt liegt es an uns zu beweisen, dass unsere Eltern und Großeltern sich nicht getäuscht haben, als sie den Sozialismus zur Lösung der Probleme unseres Landes erkoren. Unsere Regierung wurde nicht durch sowjetische Panzer an die Macht gebracht, wie es in einem Teil Osteuropas der Fall war. Sie ist das Produkt einer eigenständigen Entwicklung eines Bewusstseins als Nation und ist deshalb davon bedroht, wie Fidel im Jahr 2005 warnte, von uns selbst zerstört zu werden.

Früher wusste jeder, dass die Entscheidung für den Sozialismus die Möglichkeit beinhaltet, in diesem Versuch sein Leben zu verlieren. Heute gilt es zu verstehen, dass es weiterhin um diese Entscheidung geht und dass die Zukunft Kubas, um es mit den Worten Rosa Luxemburgs zu sagen, "Sozialismus oder Barbarei" lautet. Der Sozialismus ist unsere Überlebensgarantie und zugleich die größte gegenwärtige Herausforderung für die kubanische Jugend.

Um uns nicht selbst zu zerstören, müssen wir, ohne dass das wie eine Parole klingen soll, den Sozialismus zu einem prosperierenden und nachhaltigen System machen, die Arbeiterinnen und Arbeiter wertschätzen und den Staat in einer Phase konkurrenzfähig machen, in der die nicht-staatlichen Unternehmen immer attraktiver werden. Wenn wir es in Kuba schaffen, die wirtschaftliche Entwicklung auf ein akzeptables Niveau zu bringen, werden weniger Jugendliche ihre Zukunft im Ausland suchen.

Eine andere Herausforderung besteht darin, den Kulturkrieg zu überleben, in den wir verwickelt werden. Die ausländische "Entertainment"-Industrie gibt sich alle Mühe, uns zu beweisen, dass das sozialistische Modell gescheitert und "zufälligerweise" die einzige Alternative, die übrig bleibt, der Kapitalismus sei. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf den Satz zurückkommen, den Allan Dulles geschrieben hat, der für die USA die Strategie zur Niederwerfung der UdSSR entwickelt hat: "Wir setzen voll und ganz auf die Jugend. Wir werden sie korrumpieren, demoralisieren und pervertieren." Nicht ohne Grund landete die Air Force One in Havanna, nicht ohne Grund präsentierte sich Obama uns als unser neuer Freund, mit dem wir alle Probleme werden lösen können.

In Zeiten des Internets, der Multimedia-Angebote und der ideologischen Bombardements auf die, die vermeintlich das schwächste Glied in der Kette sind, ist es um so wichtiger, die Kinder, jugendlichen und Heranwachsenden auf diese Einflüsse vorzubereiten und nicht in die Falle zu tappen. Auch wenn es manchmal schwierig scheint, müssen wir immer wieder die Frage an die Geschichte richten, woher wir eigentlich kommen und warum wir diesen Weg gewählt haben. Wir können uns nicht von denen blenden lassen, die uns auseinander nehmen und entwaffnen wollen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Welt uns heute als ein apolitisches Etwas gegenübertritt, eine Welt des ICH, des Egoismus, der Unverbindlichkeit, in einer kubanischen Form des Postmodernismus. Es wird immer schwieriger, diesen Versuchungen nicht nachzugeben. Wir müssen dagegen unweigerlich auf eine Kultur des Widerstandes setzen, die uns mit Werten wie der Konsumkritik und dem Blick auf das Wesentliche konfrontiert und das Sein über das Haben stellt.

Dies sind nur einige Zeichen der Zeit, denn inmitten einer Welt, die vom Kapital beherrscht wird, einen neuen Menschen, eine andere Gesellschaft aufzubauen, dazu mit Jugendlichen, scheint ein verrücktes Vorhaben zu sein, nach der Art von Quijotte und den Windmühlen. Aber das ist es, womit wir es zu tun haben. Es liegt an uns, eine Alternative aufzubauen, nicht nur für die 11 Millionen, die auf unserer Insel leben, sondern zugleich zu einem Leuchtturm für all die zu werden, die von einer anderen Welt träumen. Derlei Vorhaben sind kein Spiel, obwohl wir Jugendlichen auch manchmal und gerne spielen, und das nicht zu knapp.


CUBA LIBRE (Übersetzung: Tobias Kriele)

CUBA LIBRE 3-2017