Wir müssen in der Lage sein, unsere Werte zu erkennen und zu verteidigen

Ein Interview mit Iroel Sanchez auf der Fiesta de la Solidaridad am 25. 7. 2015 in der Parkaue Berlin von Stefan Natke.


Wie wird die Annäherung USA-Kuba die kubanische Gesellschaft verändern?

Iroel Sanchez

Iroel Sanchez (r.) auf dem Podium;
Foto: Marion Leonhardt

Iroel: Wir stehen ganz am Anfang, im Moment wurden gerade einmal diplomatische Beziehungen zueinander aufgenommen – Normalisierung ist etwas anderes. Von einer Normalisierung kann man solange nicht reden, solange ein Land gegen das andere eine Wirtschaftsblockade aufrechterhält. Von einer Normalisierung kann man solange nicht reden, solange das eine Land ein Teil des Territoriums des anderen Landes gegen den Willen von dessen Bevölkerung besetzt hält und es für militärische Zwecke und andere Machenschaften nutzt. Es kann keine Normalisierung geben, solange die USA mehr als 60 Millionen Dollar jährlich ausgeben, um einen Regime-Change in Kuba zu organisieren. Es kann keine Normalisierung geben, solange die Regierung der Vereinigten Staaten weiter erklärt, sie würde ihr Ziel, nämlich das Gesellschaftssystem in Kuba zu ändern, nicht aufgeben, sondern weiterverfolgen. Aus diesem Grunde sage ich Dir, dass die Menschen auf Kuba die momentane Entwicklung zwar mit Optimismus sehen, allerdings mit einem misstrauischen Optimismus. Die USA haben ihr 1959 deklariertes Bestreben, aus Kuba wieder ein von ihnen dominiertes Land zu machen, keinesfalls aufgegeben.

Du sagst also, all diese Dinge, die Du da gerade aufgezählt hast, müssen zur Zufriedenheit Kubas geklärt werden, bevor man von einer Normalisierung der Beziehungen sprechen kann?

Genau so ist es, deswegen können wir jetzt nur über einen Schritt in die richtige Richtung sprechen. Um tatsächlich eine Normalisierung zu erreichen, müssen all die feindseligen Absichten, die die USA noch gegen unser Land hegen, vollständig eingestellt werden. Es gibt einen ganzen Katalog von aggressiven Maßnahmen, den sie gegen unser Land erstellt haben, der die Entwicklung unserer Gesellschaft erheblich einschränkt. Darum denke ich, dass es sich jetzt um den Beginn eines Prozesses handelt, der eine längere Zeit dauern wird und keine kurzfristigen Änderungen hervorrufen wird. Außerdem ist dieser Normalisierungsprozess ja selbst in den USA noch sehr umstritten. Es gibt nicht wenige Kongressabgeordnete, die sich mit aller Macht dagegen wehren, dass sich an dem bestehenden Verhältnis zu Kuba etwas ändert.

Wie war die Reaktion der Menschen in Kuba, als die Nachricht kam, dass man wieder diplomatische Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Kuba aufnehmen wolle?

Die Nachricht hat große Freude in der Bevölkerung ausgelöst. Erstens weil unsere 5 Helden zurückgekehrt sind, eine Sache die nämlich mit dem Ganzen in Verbindung steht. Zweitens weil jetzt so etwas wie ein Weg erkennbar wird, dass endlich diese elende Blockade aufgehoben wird, wovon die Menschen sich eine Verbesserung ihrer Lebenssituation versprechen. Große Freude, aber keine Euphorie. Denn wie gesagt, der Gegner hat seine Ziele nicht aufgegeben nur seine Taktik geändert. Hat er es bis jetzt mit aggressiver Konfrontation versucht, so wird er uns nun versuchen in inniger Umarmung zu erdrücken.

Wo siehst Du die größten Chancen und wo die größten Gefahren der neu entstandenen Situation?

Ich denke, dass es große Möglichkeiten gibt, den Menschen in den USA ein neues Bild über Kuba zu vermitteln. Es gab zwar immer schon eine Mehrheit dort, die für die Normalisierung der Beziehungen zu unserm Land eingetreten sind, aber im Moment werden es täglich mehr: Es sind, glaube ich, inzwischen schon über 71 %. Weiter würde ein Wegfallen der Blockade bewirken, dass wir auf einmal viel mehr ökonomische Ressourcen frei hätten, um sie dem Aufbau unserer Gesellschaft zu widmen. Wir könnten mit unseren Produkten den nordamerikanischen Markt erreichen, der einer der größten der Welt ist, um mit d en Devisen, die wir dort erwirtschaften, die sozialen Errungenschaften in unserem Land zu stabilisieren und auszubauen. Die größten Gefahren lauern allerdings darin, uns nicht über unsere eigenen Schwächen bewusst zu sein und plötzlich zu vergessen, welche Ziele die USA in Bezug auf Kuba verfolgen und mit einer gewissen Blauäugigkeit in die Beziehungen mit dem großen Imperium hereinzugehen. Wie das enden kann, haben wir schon an anderen Beispielen gesehen. Die Veränderung der Beziehungen der beiden Staaten zueinander darf auf keinen Fall eine Demobilisierung unserer Bevölkerung und ein Nachlassen der Wachsamkeit bedeuten. Wir selbst müssen in der Lage sein, die Werte, die wir in den Jahren seit der Revolution im humanistisch-sozialen Bereich geschaffen haben, als solche zu erkennen und für verteidigungswürdig zu halten. Es liegt bei uns, wir werden es sehen.

Welche Rolle kommt den sozialen Medien in diesem Prozess der Normalisierung der Beziehungen zu den USA zu?

Meiner Meinung nach kommt den sozialen Medien die Rolle zu, all die Lücken zu schließen, die die offiziellen Medien lassen. Die offiziellen Medien berichten nur über gewisse Teile der zu berichtenden Dinge – vor allem in den USA. Es geht darum, ein anderes Bild über Kuba zu vermitteln, als es momentan in den Ländern außerhalb Kubas vorherrscht. Verständnis dafür zu entwickeln, dass wir selbstverständlich das Recht haben, souverän zu entscheiden ein anderes politisches Gesellschaftssystem zu haben, als es die USA für uns für richtig halten. Natürlich muss man Obacht geben: Es gibt natürlich auch solche sozialen Medien, die den dominierenden Diskurs der bürgerlichen Massenmedien übernehmen, nachbeten und verbreiten. Das ist eine große Gefahr. Bei denen, die schwanken, kommt es darauf an, mit gut geführter Argumentation zu erreichen, dass sie sich positionieren.

Welches können mögliche Auswirkungen des begonnenen Prozesses der Normalisierung zwischen Kuba und den USA für die Vereinigten Staaten selber sein?

Iroel Sanchez

Volker Hermsdorf, Iroel Sanchez, Marion Leonhardt (v.l.n.r.)



Als erstes wertet es ihr internationales Ansehen etwas auf, ein Effekt der übrigens schon eingetreten ist. Weiter können kubanische Produkte für die USA durchaus von großem Nutzen sein. Ich denke nur an die Gesundheitsversorgung. Kuba verfügt über ein reichhaltiges Angebot medizinischer Präparate und über viel Wissen, welches durchaus dazu beitragen könnte, das Gesundheitswesen der USA zu verbessern. Auch viele nordamerikanische Firmen sind daran interessiert, mit Kuba Geschäfte machen zu können, was für die Wirtschaft der USA positiv wäre. Eine Sache, die ihnen bis dato noch bei Strafe verboten ist. Zu erwähnen wären da z. B. die Fluggesellschaften und Reiseunternehmen. Sie würden einen Gewinn erwirtschaften, aber auch uns kämen ihre Aktivitäten ökonomisch zu Gute.

Da wir uns ja hier auf der Fiesta zum Jahrestag des 26. Juli in der Hauptstadt der BRD, in Berlin befinden, gilt meine nächste Frage der Rolle, die der BRD in dieser neuen Situation zukommt und mit ihr die der EU. Wie schätzt Du dies ein?



Die EU war, was die Politik gegenüber Kuba anbelangt, immer ein Handlanger der Vereinigten Staaten von Amerika, sie hat ihre Politik stets deren Interessen und Forderungen untergeordnet. Nun scheinen die Verantwortlichen der EU langsam das Gefühl zu bekommen, irgend etwas verpasst zu haben und haben Angst, zu spät zu kommen – darum geben sie sich jetzt in La Habana die Klinke in die Hand. Erst kürzlich war die EU-Kommissarin für Auswärtige Angelegenheiten, Federica Mogherini, in Kuba und hat dort Vereinbarungen mit unserer Regierung getroffen. Ihr folgte der französische Staatspräsident Francois Hollande und nun mit einiger Verspätung ist auch der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Frank Walter Steinmeier, zu einem Besuch in Kuba gewesen. Ich denke, dass es für beide Seiten von Vorteil wäre, wenn die Länder der EU Kuba als ein gleichberechtigtes Land unter vielen betrachten würden. Der Französische Staatspräsident Hollande hat dies übrigens schon für sein Land zum Ausdruck gebracht und dabei bekräftigt, dass es vonseiten Frankreichs keine Absichten gibt, sich in die inneren Angelegenheiten der Republik Kuba einmischen zu wollen. Wir sind doch keine Kinder mehr und wissen genau, dass eine gegenseitige respektvolle Haltung zueinander das Beste für alle Beteiligten ist. Man kann dann Handel und einen kulturellen Austausch führen der zum Vorteil beider Seiten ist. Außerdem wissen die Länder der EU ganz genau, dass Kuba über einen großen Einfluss in ganz Lateinamerika verfügt – was für sie auch nicht ganz unbedeutend sein dürfte.

Welchen Stellenwert misst Du im konkreten dem Besuch von Steinmeier in Kuba zu?

Nun, als erstes finde ich es schade, dass er nicht früher gekommen ist. Er hätte nicht warten sollen, bis sein großer Bruder in Washington ihm grünes Licht dafür gibt.

Ein wenig eigene Courage und Entscheidungsfreudigkeit hätte uns glaube ich mehr beeindruckt. Aber gut, das Wichtigste ist, dass er da war. Zur Bewertung des Besuchs denke ich, dass er in die neu entstandene Gesamtsituation einzuordnen ist, welche durch den Dialog der kubanischen Führung mit der Regierung der USA entstanden ist und deshalb als positive Begleiterscheinung einzuschätzen ist. Was weiter daraus entsteht, wird sich zeigen.

Vielen Dank, lieber Iroel, für das nette Gespräch und die Zeit, die Du Dir genommen hast für unsere Zeitschrift »Cuba Libre«. Ich wünsche Dir eine gute Heimreise und noch viel Erfolg!

Gracias a ti, y saludos a Alfonso si le ves …


CUBA LIBRE

CUBA LIBRE 4-2015