Jorgitos Log

Die Blindheit des Ronald Godard

Jorgito Jerez Belisario


Die Kubanische Revolution schreibt unglaubliche Geschichten.

Jorge Enrique Jeréz Belisario kam 1993 mit einer schweren spastischen Lähmung auf die Welt. Er selbst sagt, dass es Jorgito el Camagüeyano nur deshalb heute noch gibt, weil er unter der schützenden Hand der Revolution aufwachsen konnte. So verwirklicht er heute seinen Lebenstraum und studiert Journalismus.

Sein ganzer Einsatz galt der Befreiung der Cuban Five, die ihn ihrerseits wie einen Sohn behandeln.

Jorgito erzählt seine Geschichte auf seinem Blog (http://jorgitoxcuba.wordpress.com/).

Die CUBA LIBRE ehrt er mit einer regelmäßigen Kolumne.


Ich war bereits drauf und dran, diese Kolumne zu schreiben, die zu veröffentlichen mir die Redaktion der CUBA LIBRE großzügigerweise ermöglicht, als mich mein virtueller Kalender beziehungsweise mein gesellschaftliches Verantwortungsgefühl daran erinnerten, dass heute Abend in meinem Wahlbezirk der Rechenschaftsbericht des Delegierten zur Poder Popular (wörtlich übersetzt: der »Volksmacht«), also der kubanischen Kommunalvertretungen, anstand. Ich ging mit meiner ganzen Familie auf die Versammlung, und auf dem Rückweg dachte ich darüber nach, dass es für die Leserinnen und Leser vielleicht von Interesse sein könnte, diesen Vorgang kennenzulernen, der mittlerweile an sich kubanischer ist als es unsere Palmen sind.

Die Versammlung zum Rechenschaftsbericht wird vom Delegierten der Volksmacht einberufen. Dieser wird aufgrund seiner Verdienste, seines Ansehens und seiner Fähigkeiten für zweieinhalb Jahre in die Bezirksversammlung gewählt. In meiner Wahlgemeinde wird diese Funktion von Migdalia ausgeübt, einer Angestellten in einem an eine Tankstelle angeschlossenen Ladengeschäft. Migdalia ist außerdem Abgeordnete zur Nationalversammlung der Poder Popular, dem höchsten gesetzgebenden Organ des Landes und in ihr Mitglied des ständigen Verteidigungsausschusses.

Abgeordneter wird man nicht durch Wahlkampf. Im Gegenteil: Die Kandidaten werden direkt durch die Nachbarschaft in Form einer öffentlichen Abstimmung per Handheben vorgeschlagen und in geheimer Wahl durch einfache Mehrheit gewählt. Die Kommunistische Partei Kubas greift in diesen Prozess nicht ein, da es sich bei ihr nicht um eine Wahlpartei handelt. In den Wahlgängen auf Bezirksebene erwählen die Nachbarn aus jedem Wahlbezirk mittels des direkten und geheimen Votums ihren Abgeordneten. Es ist leicht einsichtig, dass die konterrevolutionäre Strömung – wäre sie Ausdruck einer Mehrheitsmeinung – im Sinne der Konstitution über den Urnengang in Regierungsverantwortung in den Bezirken und schlussendlich auch auf nationaler Ebene gelangen könnte. Schließlich wird aus den Reihen der Delegierten die Mehrheit der Abgeordneten bestimmt.

In meinem Zuständigkeitsbereich wird die Versammlung im Haus von Amenaida, einer Spanischlehrerin, einberufen. Die Veranstaltung ist frei von Formalismen, vorne hängt die kubanische Fahne und sie beginnt mit dem Singen der Nationalhymne. Anwesend waren letztes Mal der Familienarzt, der tüchtige Arbeiter, der Gymnasiallehrer, die Krankenschwester, die Kleingewerblerin, der Wissenschaftler, der in Camagüey an einer Impfung gegen eine Krankheit, die von bestimmten Insekten hervorgerufen wird, beteiligt war, der Trainer der Baseballmannschaft, der es nicht geschafft hat, eine bessere Platzierung in der Nationalen Liga zu erreichen, der Schweißer, der uns einen astronomischen Preis für die Reparatur einer Haustür abgeknöpft hat, die Geistheilerin von nebenan, der junge Mann, der um keinen Preis arbeiten gehen will und der Held der Arbeit, um nur einige der Nachbarn zu nennen, mit denen wir zusammen leben.

Wie es ihr Name schon sagt, hat die Versammlung zum Inhalt, dass der Delegierte – der übrigens jederzeit abgesetzt werden kann – seinen Wählern die Ergebnisse seiner Arbeit vorstellt. Der Bericht von Migdalia konzentrierte sich darauf, den Nachbarn zu erklären, auf welche Weise sie ihre Anliegen vertreten hat, wofür das dem Bezirk zur Verfügung stehende Budget verwendet wurde, der Stand des Wiederaufbaus und der Erweiterung, denen die wichtigste Gesundheitseinrichtungen der Stadt unterzogen waren. Außerdem berichtete sie, wie der Start ins Schuljahr verlaufen ist.

Danach stellte sie dar, welche Lösungen für die in der vorherigen Versammlung aufgeworfenen Probleme gefunden werden konnten. Der Arzt unseres Viertel mahnte, die sanitären Kontrollen ernst zu nehmen und betonte die Notwendigkeit, die Präventivmaßnahmen korrekt anzuwenden. Ein führender Vertreter des Elektrizitätswerkes legte über die sein Unternehmen betreffenden Nachfragen Bericht ab, und anschließend vernahmen wir die in der Zwischenzeit aufgetretenen Sorgen der Nachbarn. Die Debatte war sehr intensiv. In ihr wurde die Arbeit der freiwilligen und staatlich angestellten Inspekteure hinterfragt, welche oftmals nicht sehr systematisch vorgehen und viele Verstöße und Undiszipliniertheiten zulassen. Ein anderes Thema, welches zur Sprache kam, war die sich in der Durchführung befindliche Komplettrenovierung sämtlicher Innenhofwohnungen – bei uns auch »Zitadellen« genannt – bei welcher einige Fehler begangen wurden. Die Delegierte machte sich Notizen und wird in der nächsten Versammlung zu diesen Themen Stellung nehmen.

Seit dem Entstehen der lokalen Regierungsorgane vor vierzig Jahren ist festgelegt, dass der Delegierte Kontrollfunktionen ausübt und als Keimzelle der Volksregierung eine Schlüsselfunktion ausübt, in dem Sinne, dass er zwar die Arbeiten nicht selbst auszuführen hat, sein Ansehen aber in der Praxis an die Ergebnisse gebunden ist, die in seinem Landkreis erzielt werden. Migdalia sollte sich also wieder einmal hinsichtlich Kühnheit, Geduld und Verantwortungsbewusstsein rüsten, um weiterhin das ihr von uns anvertraute Mandat auf freiwilliger Basis und nach Feierabend ausführen zu können.

Als ich nach Ende der Versammlung nach Hause kam, konnte ich nicht anders, als an die Blindheit von Ronald Godard denken, jenes US-amerikanischen Diplomaten, der am vergangenen 28. Oktober 2014 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen das Recht seines Landes darauf verteidigte, das kubanische Volk mittels einer seit 55 Jahren aufrecht erhaltenen Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade zu bestrafen und zu beugen. Der Vorwand dazu ist der angebliche Mangel an Freiheiten, Demokratie und der freien Ausübung politischer Rechte. Tatsächlich hat Godard keine Ahnung von den zahlreichen Räumen, in denen es uns Kubanern vergönnt ist, unsere Meinung auszudrücken. Es wäre eine gute Idee, ihn einmal zu einer Versammlung einzuladen, bei der ein Delegierter seinen Rechenschaftsbericht hält, damit er wirkliche Demokratie kennenlernt, die nichts mit der Parteienfarce der USA zu tun hat.

Es gibt ein weiteres, immer wieder wiederholtes Argument, um diese extraterritoriale Maßnahme gegen den Willen der überwiegenden Mehrheit der in den UN zusammengefassten Ländern aufrecht zu erhalten: »Das Embargo hat zum Ziel, das Recht der Kubaner zu verteidigen, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden.« Oder: »Es gibt kein Embargo, es handelt sich lediglich um eine Phrase der kubanischen Regierung, um ihr Scheitern zu verschleiern.«

Vielleicht hat der feine Herr in seinem Erste-Welt-Viertel eine Delegierte und einen Raum, wie ich ihn mein eigen nenne, um direkte Demokratie zu leben. Sicherlich nicht, den Godard verfügt über ein Vermögen in den USA und bedarf nicht einer Tankstellenangestellten, die sich um die Eröffnung des Schuljahres kümmert, um die Verbesserung der Situation in den öffentlichen Krankenhäusern. Vermutlich ist er Kunde einer berühmten Privatklinik und seine Kinder studieren in einem elitären Hochschulzentrum.

Es wäre interessant zu wissen, ob Godard sich auch für Westafrika interessiert und nachfragt, zum Beispiel in Sierra Leone, Äquatorialguinea oder in Liberia, ob in den Ortschaften dieser in tiefster Armut lebenden Länder, wo es keine befestigten Wege gibt, kein Trinkwasser, keine Ärzte, ob dort irgendjemand das Recht darauf wahrnehmen kann, sein eigenes Schicksal zu gestalten. Er könnte sich darüber Gedanken machen, weshalb der Kontinent mit den meisten natürlichen Ressourcen zugleich die weltweit höchste Armut aufweist. Warum verpflichtet niemand die Nationen, welche Afrika ausgebeutet haben, mittels der materiellen Wiedergutmachung ihre geschichtliche Verantwortung zu übernehmen und die Nachkommen der ursprünglichen Bewohner zu entschädigen, die als Sklaven verkauft wurden und eigentlich die rechtmäßigen Eigentümer der geraubten Reichtümer sind?

Ungleichheit ist kein exklusives afrikanisches Unglück. Lateinamerika leidet bis heute unter den Konsequenzen des neoliberalen Modells, welches die Region im Jahr 1990 geißelte. Auch dieser Kontinent ist schweren Gefahren ausgesetzt, die oftmals beängstigender sind als furchtbare Epidemien wie Ebola. Eines dieser Risiken ist die vom internationalen Verbrechen, dem Drogenhandel, und von der damit verbundenen Destabilisierung ausgehenden Gewalt. Solcherlei Phänomene wohnen Wirtschaftsmodellen inne, die das Kapital in wenigen Händen oder Familien konzentrieren. Dieses Szenarium kann, auch wenn diese Worte Godard weh tun mögen, eine Alternative für unser Land sein.

Kuba hat sein Schicksal am 1. Januar 1959 entschieden. Zwar ein armes Land, hat es aber beschlossen, so gut wie möglich zu leben. Dieser Traum bleibt nicht nur seinen Staatsbürgern vorbehalten. Kuba bietet seine ihm zur Verfügung stehenden Humanressourcen auch anderen Völkern an. Brigaden, die aus Tausenden von Ärzten und Gesundheitsspezialisten bestehen, sind heute in Gegenden im Einsatz, in denen andere Spezialisten sich weigern, zu arbeiten.

Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob der Neue Mensch, von dem Che Guevara träumte, bereits diese Welt bewohnt. Aber wenn selbstlose Menschen wie der kubanische Helfer Jorge Juan Guerra Rodriguez, der als Teil der kubanischen medizinischen Brigade – die der Ebola entgegengetreten ist – verstarb, ihr Leben geben, ohne jemals etwas dafür verlangt zu haben, dann bin ich zumindest davon überzeugt, dass es auf der Erde immer mehr Menschen gibt, die lieben und versuchen, etwas aufzubauen. Die Godards, die hassen und zerstören, werden dagegen immer weniger. Deshalb, sage ich, ist eine bessere Welt möglich.


Logo CUBA LIBRE (Übersetzung: Tobias Kriele)

CUBA LIBRE 1-2015