Die Kraft der Schwachen

Es gibt Dinge, die tun sich mit Leichtigkeit, weil sie getan werden wollen.

Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz in Havanna teil, in der über mögliche Schritte in der Kampagne für die Cuban Five beraten wurde. Gegen Ende der Veranstaltung, die Abschlusserklärung war schon verlesen, erbat jemand aus den hinteren Reihen das Wort. Der Vorsitzende nickte und winkte den Redner ans Mikrofon. Es dauerte eine Ewigkeit, ohne dass der Wortmelder nach vorne gekommen wäre, und im Publikum drehten sich einige Kopfe, um den Grund der Verzögerung zu erheischen. Durch den Gang kämpfte sich ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, dem eine Lähmung das Laufen erschwerte. Den rechten Arm trug er an den Körper gepresst, die Hand eigentümlich angewinkelt. Mit dem linken Arm führte er rudernde Bewegungen aus, als suchte er Gleichgewicht. Es war, als hatte er den Widerstand seiner ungehorsamen Beine zu überwinden. Wahrend er auf die Buhne zusteuerte, warf er ab und an den Kopf in den Nacken und lachte in sich hinein, oder besser gesagt, aus sich heraus, scheinbar ohne Anlass. Als er die letzte Herausforderung, die drei Treppenstufen bis zur Buhne, nahm, ging der ganze Saal mit. Auf dem Podium angekommen, drehte sich der Junge zum Publikum und betrachtete die vollen Reihen. Vor das erste Wort drängte sich wieder ein Lachen, und die Augen blitzten schelmisch, als wurde er innerlich die Pointe eines Witzes vorweg erleben.

Jorgito mit René Gonzáles

Jorgito mit René Gonzáles

»Man nennt mich Jorgito den Camagüeyaner«, begann er mit breiter, zu versagen drohender Stimme. Es war, als musste er jedes Wort einzeln ausspucken. »Wahrend der Geburt erlitt ich eine Zerebralparese, die eine beidseitige Spastik zur Folge hatte.« In jedem anderen Land Lateinamerikas, und in den meisten der Welt, erklärte uns Jorgito, hatte er nicht überlebt oder doch zumindest kein Leben gehabt. »Ohne die kubanische Revolution gäbe es mich heute nicht mehr.« Und wahrend der junge Mann berichtete, wie ihn der kubanische Humanismus vor dem Untergang gerettet und das Leben geschenkt hatte, folgten ihm die Anwesenden mit großer Aufmerksamkeit. Jorgito kam schon als Kind zu der Schlussfolgerung, dass er der Revolution gegenüber in der Schuld stehe, sie mit allem zu verteidigen. Als er fünf Jahre alt war, wurden in Miami fünf Kubaner verhaftet. Mit zehn oder elf gründete er sein erstes Komitee zur Unterstützung der Gefangenen. Diese Männer, so verstand es der Knabe, riskierten alles, um das zu schützen, was ihm das Leben gerettet hatte.

Mit schwerer Zunge und doch gewandten Worten breitete Jorgito in wenigen Sätzen sein ganzes Leben vor uns aus. Um dann zum Schluss zu kommen: »Ich habe eine Bitte an alle Anwesenden. Es ist eine kleine Bitte und von jedem zu erfüllen. Ich bitte Euch um einen Gefallen, der mit Leichtigkeit zu tun ist.« Dreihundert Personen folgten wie gebannt dem Jugendlichen, wahrend dieser wahrend einer kleinen Kunstpause charmant in die Menge lachte, die zu begreifen begann, dass sie dem jungen Mann für sein Verständnis zu danken habe, nicht andersherum.

»Alles was ich mochte, ist, dass Ihr jeden Abend, bevor Ihr zu Bett geht, einen Moment auf die Frage verwendet: Was habe ich heute für die Freilassung der Cuban Five getan? – Das ist schon alles.« Sprachs, lachte noch einmal in die Welt und kämpfte sich durch eine geplättete Versammlung zu seinem Platz zurück.

Ich bin gebeten worden, zu erklären, was mich bewegt hat, an einem Dokumentarfilm über eben jenen Jungen zu arbeiten. Die Antwort ist einfach. Ich bin ihm gefolgt und habe eines Abends vor dem Schlafengehen die mir aufgetragene Frage gestellt.

CUBA LIBRE Tobias Kriele

CUBA LIBRE 4-2013